Forschung

I. Forschung (fachspezifisch: Suizidologie)
Mit Aufnahme meiner Tätigkeit im Therapiezentrum für Suizidgefährdete im Gründungsjahr 1990 habe ich mich zunächst klinisch als auch forschungsorientiert der Entwicklung und Implementierung des Forschungsschwerpunktes „Suizidalität bei Frauen“ und „Suizidalität und Gender“ gewidmet.
Denn obwohl der Unterschied der Häufigkeit von Suiziden und Suizidversuchen einer der auffälligsten und eklatantesten statistischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen ist, hat der Themenkomplex „Suizidalität bei Frauen“ weder forschungsgeschichtlich noch in den anwendungsorientierten benachbarten Fachdisziplinen (Medizin-Psychiatrie, Psychotherapie, Soziologie, Psychoanalyse, Suizidologie) eine hinreichende Verankerung gefunden.
Die geschlechterdifferentiellen Untersuchungen dienen somit auch der Weiterentwicklung der psychodynamischen Theorie zur Suizidalität und ihrer psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung.


1.1. Suizid und Gender in den traditionellen Erklärungsmodellen zur Suizidalität

Projekt: Dissertation am FB Psychologie
Titel: Suizidalität bei Frauen. Eine kritische Analyse der vorliegenden Erklärungsmodelle zur Suizidalität
Zeitraum: 1993 – 1996.
Wissenschaftliche 
Betreuung: Prof. Dr. Jochen Eckert; Prof. Dr. Paul Götze

Ausgangspunkt der Dissertation war die mehrjährige psychoanalytisch-psychotherapeutische Arbeit mit einer suizidalen Klientel am Therapiezentrum für Suizidgefährdete und die Beobachtung, daß Frauen fast dreimal so häufig Suizidversuche wie Männer unternehmen, aber das Thema der weiblichen Suizidalität in kaum einer der suizidologischen Untersuchungen einer eigenständigen Betrachtung unterzogen wird. Vor diesem Hintergrund wurden die klassischen, d.h. die epidemiologischen, medizinischen, psychiatrischen, soziologischen und psychoanalytischen Erklärungsmodelle zur Suizidalität mittels einer tiefenhermeneutisch orientierten Textanalyse auf ihre impliziten und expliziten Erklärungsmuster zur weiblichen Suizidalität hin befragt. Dabei zeigte sich, daß die vermeintlich objektiven Fakten zum geschlechtsspezifischen Suizidverhalten eine Reproduktion von Geschlechtsrollenstereotypen sind, mit denen lediglich die Mythen über die Differenz der Geschlechter im Gewand einer Theoriebildung fortgesetzt werden.

Publikation: Gerisch, B. (1998): Suizidalität bei Frauen. Mythos und Realität – Eine kritische Analyse. Tübingen: edition diskord, 285 Seiten.


1.2. Psychoanalytische Entwicklungspsychologie und Suizidalität

Projekt: Habilitation am FB Medizin
Titel: Zum psychoanalytischen Verständnis der Suizidalität bei Frauen unter Berücksichtigung der Konstituierung weiblicher Identitätsentwicklung: Kasuistische Ergebnisse anhand von 20 psychoanalytisch-orientierten Kurztherapieverläufen
Zeitraum: Beginn: 1992, Abschluss: Dieses Projekt wurde am 24.11.1999 als 
Habilitationsschrift am FB Medizin eingereicht
Wissenschaftliche 
Begleitung: Prof. Dr. Margarete Berger, Prof. Dr. Paul Götze

Ausgangspunkt der Studie ist zum einen die neunjährige psychoanalytisch orientierte psychotherapeutische Erfahrung mit suizidalen Patientinnen und Patienten am Therapie- und Forschungszentrum für Suizidgefährdete der Universitätsklinik Hamburg und das Fehlen hinreichender theoretischer Konzeptionen zum Suizidverhalten von Frauen zum anderen. Obwohl Frauen annähernd dreimal so häufig Suizidversuche wie Männer unternehmen, wurde das Thema der weiblichen Suizidalität in kaum einer der suizidologischen Untersuchungen einer eigenständigen Betrachtung unterzogen. In einer kritischen Würdigung (Teil I) der herkömmlichen (epidemiologischen, medizinisch-psychiatrischen und psychoanalytischen) Erklärungsmodelle zeige ich zunächst, daß die suizidologische Forschung bislang so gut wie nicht über die Reproduktion von Geschlechterrollenstereotypen hinausgekommen und Suizidalität bei Frauen nicht im Kontext der Genese von Geschlechtsidentität untersucht worden ist.
Demgegenüber ergab sich aus den psychotherapeutischen Behandlungen von suizidalen Patientinnen, daß spezifisch weibliche Identitätskonflikte maßgeblich an der Entwicklung des suizidalen Erlebens und Verhaltens beteiligt sind. Daraus entwickelte sich die Hypothese (Teil II), daß ein differenzierter Zugang zur weiblichen Suizidalität nur unter der Berücksichtigung der Konstituierung von weiblicher Identität und Subjektivität gelingen kann, weil sich die inneren Reifungsprozesse von Frauen prinzipiell im Kontext von konfliktträchtigen Separations- und Individuationsprozessen vollziehen und konstituieren. Hierbei geht es nicht um eine vollständige Darstellung aller Dimensionen der Identitätsentwicklung, sondern um eine Fokussierung auf die Individuierungskonflikte vom weiblichen mütterlichen Vorbild. Denn es zeigte sich, daß die Suizidalität der Patientinnen auffallend häufig an entwicklungsabhängige Individuierungsphasen wie Adoleszenz, Schwangerschaft, Geburt eines Kindes, Aufnahme und Gestaltung von Liebesbeziehungen etc. gebunden war, in deren Verlauf die konflikthaften oder misslungenen Separationsbemühungen von der Mutter aktualisiert wurden.
Auf der Basis der psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Methodik und des Konzeptes der Einzelfallstudie (Teil III) erfolgt in Teil IV anhand der Darstellung zweier Gruppen von je 10 Patientinnen und deren psychoanalytisch-orientierten Kurzpsychotherapieverläufen eine ausführliche Diskussion des Fallmaterials, in der hypothesengeleitet der konfliktreiche Zusammenhang von Suizidalität und scheiternden weiblichen Individuationsprozessen aufgezeigt wird.
In der Diskussion der Habilitationsschrift fasse ich zusammen, daß sich die beiden Gruppen zwar in ihren vorherrschenden Abwehroperationen und Bewältigungsversuchen unterschieden – (Gruppe I: primär leistungsorientiert, Gruppe II: primär objektanklammernd), diese aber Ausdruck ein und desselben Kernkomplexes waren, der aus dem missglückten Separations- und Individuationsprozess resultierte und in der suizidalen Dekompensation gleichermaßen zum Ausdruck kam wie zu lösen versucht wurde. Dieser Ansatz eröffnet – auch als Basis einer fortgesetzten wissenschaftlichen Evaluation – nicht nur neue und zentrale Verständnisdimensionen für die Suizidalität bei Frauen, sondern er impliziert auch wichtige therapeutische Konsequenzen, indem der Blick geschärft wird für die gelungene Aneignung weiblicher Identität und deren möglichen Störungsquellen, die dann im suizidalen Handeln manifest werden können.

Publikation: Gerisch, B. (2003): Die suizidale Frau – Psychoanalytische Hypothesen zur Genese, Gießen: Psychosozial Verlag, 381 Seiten.


1.3. The female body – unconscious configuration

Projekt: Als Hamburger-DPV-Repräsentantin Beteiligung am Aufbau einer internationalen Workgroup der Study and Work Groups of the Committee on Women and Psychoanalysis (COWAP) der International Psychoanalytic Association (IPA)
Titel: The female body – unconscious configuration
Zeitraum: Beginn: 1999, Abschluss: 2004
Wissenschaftliche
Begleitung: Prof. Joan Raphael-Leff, London; Dr. Monique Cournut-Janin, Paris

Auftrag der Study and Work Groups of the Committee on Women and Psychoanalysis (COWAP) war es, eine Struktur zur Erforschung von Themen zu schaffen, die sich auf wissenschaftliche, praktische und politische Fragen beziehen und die von primärer Bedeutung für Frauen sind – durch die Initiierung lokaler, nationaler und internationaler Kooperationen. Dies schließt initiierende Arbeitsgruppen und Zusammenkünfte sowie die Verbreitung von Informationen über Frauenfragen durch die Veröffentlichung von relevanten neuen und historischen Arbeiten ein. In diesem Rahmen wird eine internationale Workgroup „The female body – unconscious configuration“ aufgebaut.


1.4. Sociological and Psychoanalytical Aspects of Suicidality among Women

Projekt: Organisation und Leitung des Forschungsforums auf dem Kongreß Suicidality – Psychoanalysis – The Current State of Research and Treatment – Future Perspectives vom 30.8. – 2.9.2001 in Hamburg, veranstaltet vom Therapiezentrum für Suizidgefährdete
Titel: Sociological and Psychoanalytical Aspects of Suicidality among Women
Zeitraum: 30.8. – 2.9. 2001
Leitung: PD Dr. Benigna Gerisch

Benigna Gerisch, Hamburg: Psychoanalytical Aspects: Suicidality among Women
Silvia Sara Canetto, Fort Collins: Sociological Aspects of Suicidality among Women
Sabine R. Schaaf, Hamburg: Psychoanalytical Aspects of Suicidality among Female Adolescents and Children


1.5. Körperselbsterleben und Autodestruktion

Projekt: Teilprojekt im Rahmen der interdisziplinär besetzten Fachgruppe des Forschungsprojektes: Körper – Pathologie – Gender: Interdisziplinäre Erforschung geschlechtertypischer Körperpraktiken sowie Entwicklung von Konzepten zur Prävention autodestruktiver Symptombildungen
Titel: Zur Genese des Körperselbsterlebens und autodestruktiven Körperagierens von Frauen unter besonderer Berücksichtigung der Trias von Geschlechtsidentität, Autodestruktion und Symbolisierungsfähigkeit: ein quantitativ-qualitativer Forschungsansatz
Zeitraum: Herbst 2006, Abschluss: offen
Leitung: Prof. Dr. Benigna Gerisch

Der Ausgangspunkt dieser Studie ist die empirische und klinische Evidenz der Häufung und Zunahme von mehr oder minder schweren Körperpathologien bei Frauen.

Im Unterschied zur rein somatischen Organerkrankung ist in diesem Kontext immer eine psychodynamische Konzeptualisierung gemeint, mit der davon ausgegangen wird, dass mit, am und durch den Körper — der mehr oder minder beschädigt und zuweilen auch in Folge organisch krank sein kann — eine zumeist unbewusste, multideterminierte intrapsychische Konfliktdynamik ausagiert wird.

Aus psychopathologischer Perspektive sind unter diesen ‚Körperpathologien‘ Suizidversuche, Essstörungen (insbesondere: Bulimie) und selbstverletzendes Verhalten sowie – mit Einschränkungen – operative Schönheitseingriffe zu verstehen. Die Ausformungen der genannten Symptomatiken stehen in engem Zusammenhang mit der Genese und Integration des Körperselbstbildes und des Körperselbsterlebens im Reflex auf frühkindliche und aktuelle Beziehungserfahrungen, die nicht selten von starren Geschlechterrollenstereotypien geprägt sind. Das für diese Patientinnengruppen vielfach beschriebene gesteigerte Bedürfnis nach Körperkontrolle und der Dissoziation des Körperselbsterlebens steht u.a. in engem Zusammenhang mit dem Erleben von und des Umgangs mit aggressiven Phantasien/Gedanken, Impulsen und Handlungen im entwicklungspsychologisch relevanten Spannungsgefüge von Autonomie und Abhängigkeit. Ziel des geplanten Projektes ist es, die Gruppen im Hinblick auf das Körperselbstbild, das Körperselbsterleben, das Selbstwertgefühl, das Aggressionserleben, die Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit sowie die Geschlechtsrollenidentifizierung zu untersuchen und miteinander zu vergleichen.
Die auswertbare Stichprobe umfasst ca. 100 Patientinnen. Es ist ein quantifizierender und qualitativer Untersuchungsansatz vorgesehen. Der quantifizierende Ansatz dient dazu, Merkmale des aktuellen Befundes – ggf. auch von potentiellen Risikofaktoren — (soziodemographische Bedingungen, Diagnostik, Symptomentwicklung und -dauer, Auslöser, früheres und aktuelles Körperselbsterleben sowie frühere und aktuelle Beziehungserfahrungen) psychometrisch zu erfassen. Im zweiten Schritt soll das qualitativ-quantitative und gendersensitive Diagnoseinstrument Körper-Grid zur vertiefenden Erhebung der kognitiv semantischen Körpererlebensprofile und der Struktur der Körper-Selbst-Repräsentanz eingesetzt werden, um die aktuelle Struktur der Körper-Selbst-Repräsentanz – unter Berücksichtung von zwei Komponenten: der erlebte Körper (Realkörper) und der gewünschte Körper (Idealkörper) – zu identifizieren. Im dritten Schritt soll diese operationalisierte Struktur in Beziehung gesetzt werden zur Symbolisierungsfähigkeit von Abgrenzung-Autonomie sowie Aggression (aggressiver Phantasien/Gedanken, Impulsen, Handlungen) und Destruktion vor dem Hintergrund der individuellen biographischen Anamnese, um ggf. die entwicklungspsychologisch relevanten Fixierungsstellen zu identifizieren, die eine autodestruktive Indienstnahme des Körpers wahrscheinlich machen und befördern. Zur Operationalisierung der Symbolisierungsfähigkeit werden psychodynamisch orientierte Tiefeninterviews geführt, die durch eine Forschungssupervision (Psychoanalytiker, Psychotherapeuten) ausgewertet werden. Die Ergebnisse sollen zu einer psychodynamisch-strukturtheoretischen Konzeptualisierung im Hinblick auf das Körperselbstbild, das Körperselbsterleben, das Selbstwertgefühl, das Aggressionserleben, die Symbolisierungsfähigkeit und die Geschlechtsrollenidentifizierung zusammengefasst und mit einer „normalen“ Patientinnengruppe, die keinerlei Körpersymptomatik aufweist, verglichen werden.

Projektpräsentation am 13.4.2005 in der Arbeitsgruppe Qualitative Psychotherapieforschung am UKE, unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Ulrich Stuhr
Projektpräsentation am 24.9.2005 auf der Forschungstagung der Hochschul- und Forschungskommission der Deutschen Psychoanalytische Vereinigung in Frankfurt a.M., unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber
Projektpräsentation am 8.12.2005 in der Forschungsgruppe Suizidalität und Psychotherapie, unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Horst Kächele


2. Forschungsgruppe Suizidalität und Psychotherapie am Therapiezentrum für Suizidgefährdete (TZS)

Der Schwerpunkt der Forschungsgruppe Suizidalität und Psychotherapie am TZS lag in der qualitativ-quantitativ wissenschaftlichen Untersuchung des Verständnisses und der Therapie suizidalen Erlebens und Verhaltens.
Die seit 1991 laufenden Forschungsprojekte hatten zum Ziel:
Die Untersuchung und Weiterentwicklung von Konzepten zum Verständnis suizidalen Erlebens und Verhaltens. Dabei werden Grenzbereiche aus der Kulturanthropologie, den Sozialwissenschaften, der Literaturwissenschaft und Kunst einbezogen (s.u.)
Die Entwicklung und Evaluation von Behandlungskonzepten für die Psychotherapie suizidalen Verhaltens. Dabei werden sowohl psychotherapeutische als auch psychiatrisch-pharmakologische Aspekte berücksichtigt
Entwicklung und Evaluation von Inter- und Supervisionsprozessen in Kooperation mit nationalen und internationalen Psychoanalytikern und Wissenschaftlern, u.a. mit Prof. T. Maltsberger und Prof. M. Goldblatt von der Medical School der Harvard University/Boston
Die Entwicklung und Evaluation von Instrumenten zur Diagnostik der Suizidalität sowie der Dokumentation ambulanter psychoanalytischer Psychotherapien
Die epidemiologische Untersuchung von Versorgungsstrukturen für die Behandlung suizidaler Patienten
Das Therapiezentrum für Suizidgefährdete ist Mitglied in den Gesellschaften:

WHO/Europe-Network for Suicide Research and Prevention
International Association for Suicide Prevention (IASP)
European Network for Suicidology (ENS)
Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Hilfe in Lebenskrisen e.V. (DGS)


II. Forschungstätigkeit (interdisziplinär und transdisziplinär)

Diese Forschungstätigkeit dient der vertiefenden interdisziplinären und transdisziplinären Vernetzung sowie der Implementierung psychoanalytischer Schwerpunkte im interdisziplinären Diskurs: Soziologie, Erziehungswissenschaft, Philosophie, Kulturwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft, Literatur- und Theaterwissenschaft.


2.1. Forschungsprojekt: Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne

Projekttitel: Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne – Gegenwärtiger kultureller Wandel von Selbstentwürfen, Beziehungsgestaltungen und Körperpraktiken

Zeitraum: 1.12.2009 – 30.9.2016
Leitung: Im Dezember 2012 wurde die Arbeit am gemeinsam von
Prof. Dr. Vera King (Sprecherin), Universität Hamburg, Prof. Dr. Benigna Gerisch, IPU Berlin, und Prof. Dr. Hartmut Rosa, Friedrich-Schiller-Universität Jena, initiierten transdiziplinären Projekt »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« aufgenommen.
Förderung: Das Projekt wird durch die Volkswagen-Stiftung gefördert im Rahmen der Förderinitiative »Schlüsselthemen in Wissenschaft und Gesellschaft«
Bewilligungszeitraum: 01.12.2012 – 30.09.2016

Forschungsanliegen
Ausgangspunkt des Projekts ist der Befund, dass sich moderne Gesellschaften westlichen Typs dynamisch reproduzieren, d. h. auf stetigem Wachstum und Innovation basieren, und dass sich im Zuge dessen die Modi der Effektivitätssteigerung verändern. So impliziert dynamisches Wachstum nicht nur die Beschleunigung sozialer Prozesse, sondern erfordert permanente Optimierung sozialer Praxis in unterschiedlichen Lebensbereichen. Die verschiedenen, teils auch im Verhältnis zueinander strukturell entgegengesetzten Optimierungslogiken in differenten Teilbereichen müssen auf der Ebene individueller Lebensführung wiederum integriert und in diesem Sinne zu perfektionieren versucht werden.
Während Optimierungsanforderungen aus der Rationalisierung und operativen Beschleunigung sozialer Handlungsfelder resultieren und in der Regel auf die quantitative Steigerung einzelner Parameter der Lebensführung abzielen, richten sich Perfektionierungsbestrebungen in diesem Sinne auf die gesamte Lebensführung. Dabei gehen wir davon aus, dass sich spätestens mit den folgenreichen politischen, technischen sowie ökonomischen Umbrüchen um 1990 die Moderne selbst noch einmal in einer Weise beschleunigt hat, die für die individuelle Lebensführung neuartige Perfektionierungsansprüche und Widersprüche hervorbringt und bisherige Integrationsfähigkeiten in Frage stellt.
Projektleitend ist somit die Annahme eines spezifischen Zusammenhangs von Beschleunigung, Optimierung und Perfektionierung, dessen Untersuchung auf verschiedenen Ebenen des Sozialen aussteht. Ausgehend von der Vermutung, dass die Anforderungen an perfektionierte Lebensführung biografische Muster und Bewältigungsformen begünstigen, die systematisch die – für das gesellschaftliche Funktionieren und die Reproduktion zugleich unverzichtbaren – Ressourcen sozialer Beziehungen und psychischer Verarbeitungskapazitäten zu unterminieren neigen, untersuchen wir insbesondere die potentiell kontraproduktiven Folgewirkungen der Perfektionierungsansprüche. Aus dieser Sicht sind Zusammenhänge naheliegend zwischen (Aporien der) Perfektionierung und jenen Phänomenen und Störungsbildern, die als zeittypische Pathologien’ verstanden werden können. Erscheinungsformen der Erschöpfung und Überforderung sowie pathologisch übersteigerte Formen der (insbesondere körpermanipulierenden) Selbstoptimierung sind, so eine untersuchungsleitende Hypothese, gesellschaftlich mitproduzierte und/oder verstärkte symptomatische Verarbeitungsweisen, die die Aporien der Perfektionierung zugespitzt zum Ausdruck bringen. Vor diesem Hintergrund sollen im Projekt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen alltäglichen biografischen Mustern der Optimierung und Perfektionierung und Bewältigungsmustern oder Überforderungsszenarien bei klinisch auffälligen Gruppen verglichen werden.
Im Zentrum stehen daher für alle Teile des Projekts die Fragen, wie sich die fortwährende gesellschaftliche Dynamisierung des Wettbewerbs und der Anerkennungsstrukturen in Perfektionierungszwänge für die Subjekte übersetzt und welche Konsequenzen dies für soziale Beziehungen und Selbstentwürfe auch auf der Ebene der Körper-Selbstverhältnisse hat. Dazu ist ein dreigliedriger, eng aufeinander bezogener, mehrere Ebenen des Sozialen vermittelnder und zugleich mehrdisziplinärer Zugang konzipiert, bei dem verschiedene qualitative und quantitative Methoden kombiniert werden.

Methodik
Im ersten Teilprojekt (Rosa) wird aus makrosoziologischer Perspektive die Matrix einer Zeit- und Gesellschaftsdiagnose erarbeitet, die im zweiten Teilprojekt (King) durch eine biografieanalytische Mikroanalyse unter Einbezug generationaler Aspekte von Sozialisationsprozessen sowie psychischen Verarbeitungsmustern weiter ausdifferenziert wird, während im dritten Teilprojekt (Gerisch) die Auswirkungen auf den Ebenen des Psychischen mit Blick auf die Umschlagstelle von Selbstoptimierung und Autodestruktion fokussiert werden.

Ziel
Der innovative Gewinn dieses dreigliedrigen Forschungsansatzes liegt insgesamt in der Möglichkeit, den sozialtheoretisch offenen Fragen zur komplexen Vermittlung von Sozialem und Individuellem im Kontext der dargelegten kulturellen Wandlungsprozesse nachgehen zu können. Entsprechende Ergebnisse sind sowohl für die Sozialisations- und Entwicklungsforschung als auch für den klinisch-diagnostischen und präventiven Bereich relevant und darüber hinaus auch in gesellschaftlicher Hinsicht von großem Interesse.


2.2. International-interdisziplinäres Symposion 2008: „Zeitgewinn und Selbstverlust – Folgen und Grenzen der Beschleunigung in der späten Moderne“

Leitung: Prof. Dr. Vera King und PD Dr. Benigna Gerisch
Wissenschaftliche Konzeption und Leitung des interdisziplinär-internationalen Symposions „Zeitgewinn und Selbstverlust – Folgen und Grenzen der Beschleunigung in der späten Moderne“ vom 12.9. – 13.9.2008 in der Universität Hamburg,

Referenten: Prof. Dr. Nicole Aubert (Paris), Prof. Dr. Andreas Dörpinghaus (Würzburg), PD Dr. Benigna Gerisch (Hamburg); Dipl.-Psych. Esther Horn (Stuttgart), Prof. Dr. Vera King (Hamburg), Prof. Dr. Hans-Christoph Koller (Hamburg), Prof. Dr. Carmen Leccardi (Mailand), Dr. Joanna Lipper (New York), Prof. Dr. Christa Rohde-Dachser (Frankfurt a.M.), Prof. Dr. Hartmut Rosa (Jena), Prof. Dr. Heinz Weiß (Stuttgart).

Publikation: King, V.; Gerisch, B. (Hrsg.) (2009): Zeitgewinn und Selbstverlust – Folgen und Grenzen der Beschleunigung in der späten Moderne. Campus-Verlag: Frankfurt a.M./New York., 262 Seiten.


2.2.1. Internationale Tagung an der Universität Hamburg: APAS-Tagung „Lost in Perfection: Folgen und Grenzen von Optimierung in Kultur und Psyche“ am 9.10.2015

Leitung: Prof. Dr. Benigna Gerisch, Prof. Dr. Vera King, Prof. Dr. Hartmut Rosa

Tagungsbericht
Am 9. Oktober 2015 fand an der Universität Hamburg die internationale, transdisziplinäre Tagung „‘Lost in Perfection‘. Folgen und Grenzen von Optimierung in Kultur und Psyche“ statt. Veranstaltet wurde sie von der Forschungsgruppe des APAS-Projekts – des Projekts zu ‚Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne. Gegenwärtiger kultureller Wandel von Selbstentwürfen, Beziehungsgestaltungen und Körperpraktiken‘, geleitet von Prof. Dr. Vera King (Sprecherin, Fak. 04 der Univ. Hamburg), von Prof. Dr. Benigna Gerisch (International Psychoanalytic Univ. Berlin) sowie von Prof. Dr. Hartmut Rosa (Allg. Soziologie, Univ. Jena), gefördert von der VolkswagenStiftung in der Förderlinie ‚Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft‘.
Die Veranstaltung stieß auf großes Interesse: Über 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus unterschiedlichen Fächern und Berufsgruppen nahmen teil an diesem Symposion, das im vollen Hörsaal Audimax stattfand.
Zunächst richteten Frau Prof. Dr. Susanne Rupp, Vizepräsidentin der Universität Hamburg, sowie Frau Prof. Dr. Eva Arnold, Dekanin der Fakultät für Erziehungswissenschaft, ihre Grußworte an das Publikum. Beide betonten die Aktualität und Bedeutung des Themas auch in Bezug auf Optimierungsanforderungen in der Wissenschaft, in Forschung und Bildung. Anschließend führte die Veranstalterin Prof. Dr. Vera King im Namen des APAS-Projektteams in das Thema der Tagung ein. Zwar sei eine Ausrichtung an Idealen der Vervollkommnung ein bekanntes Thema in der Menschheits- und Kulturgeschichte, in der flexibilisierten und beschleunigten Moderne nehme allerdings die Tendenz zu, dass eine angesteuerte Perfektion stets aufs Neue überschritten werde. Daran anknüpfend warf sie einige für die Tagung leitende Fragen auf: Wie lassen sich in diesem Sinne die Folgen und Grenzen von Optimierung bestimmen? Unter welchen Bedingungen schlägt das Streben nach Vervollkommnung in gegenläufige, zerstörerische Entwicklungen um? In welchem Verhältnis stehen Destruktivität und Anpassung sowie Pathologie und Normalität?
Vor diesem Hintergrund befasste sich der erste Vortrag von Alain Ehrenberg (CNRS, Paris), moderiert von Diana Lindner, mit der Zunahme von sozialen Pathologien im Zusammenhang mit Optimierungsanforderungen. In seinem Vortrag „Die beiden Bedeutungen des Begriffs Sozialpathologie – zur Anthropologie des Unglücks in individualistischen Gesellschaften“ analysierte er, wie „Störungen der psychischen Gesundheit“ (Depression, Sucht, ADHS u. a.) an einen sozialen und politischen Hintergrund gebunden seien. Pathologien seien in diesem Sinne nicht nur ein jeweils individuelles Problem, sondern seien auch auf soziale Verhältnisse sowie die diesen zugrunde liegenden Werte und Normen zurückzuführen. Zwar seien Individuen von den Störungsbildern betroffen, in ihnen manifestiere sich jedoch zugleich ein „gesellschaftliches Übel“, das sozialer und soziopolitischer Natur sei. Ehrenberg entwickelte die These, dass im Bereich der „psychischen Gesundheit“ auch jeweils das Verhältnis von individuellem Leid und sozialen Beziehungen verhandelt werden müsse. Im Besonderen betonte er, dass bei gegenwärtigen Definitionen von ‚mental health‘ die Kriterien angepassten sozialen Funktionierens eine immer größere Rolle spielen.
Im Anschluss beschäftigte sich die französische Wirtschaftssoziologin Ève Chiapello (EHESS, Paris), mit spezifischen Optimierungsformen im gegenwärtigen Finanzkapitalismus. Der Vortrag „Optimierung im Kontext von Finanzialisierung“, moderiert von Niels Uhlendorf, ging im Kern davon aus, dass die gegenwärtige Phase des Kapitalismus durch eine Ausdehnung von Finanzmarktlogiken auf immer neue Lebensbereiche charakterisiert sei. In diesem Kontext entstehe eine besondere Form von Optimierung, welche auf kalkulative Methoden der Finanzökonomie zurückgreife. Dies vollziehe sich im Sinne von „Investments“, die Erträge erzielen sollen, was wiederum nahelegen würde, nur in jene Projekte zu investieren, die auch hohe Erträge versprechen. Zu beobachten sei die Entwicklung neuer metrischer Erhebungsinstrumente, die eine Ausdehnung des Profitdenkens auch auf Bereiche jenseits des rein Ökonomischen zur Folge haben, was auch die „Kolonisierung unseres Psychischen“ beinhalte. So würden Individuen zum Beispiel Handlungen unterlassen, wenn ihre Resultate im Verhältnis zur Investition als nicht profitabel angesehen werden. Diese Situation sei Teil der jüngsten Entwicklungen einer projektbasierten Gesellschaft und gehe mit der Aufforderung an Individuen einher, nicht nur Unternehmer ihrer selbst zu werden, sondern den Wert der eigenen Person stets nachzuweisen, sich selbst also als Humankapital zu gestalten.
Anschließend begrüßte das Veranstaltungsteam den Soziologen Heinz Bude (Univ. Kassel), der Optimierungstendenzen der gegenwärtigen Moderne an die Frage der Angst koppelte. In dem Vortrag „Angst als Schlüssel zum Sinn des Ganzen“, moderiert von Julia Schreiber, zeichnete er zunächst soziale Transformationen der letzten Dekaden nach (i. B. Individualisierung, Flexibilisierung, Verlust von Integrationsmodi, Verlust von Reziprozitätsversprechen) und diagnostizierte in diesem Zusammenhang einen Verlust an Sinnressourcen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Bei der übergreifenden Sinnfrage helfe es dabei, das Phänomen der Angst genauer in den Blick zu nehmen. Angst sei Ausdruck einer Existenz, die sich vor ihrer eigenen Unbestimmtheit und Richtungslosigkeit fürchte. Die Stimmung der Angst ermögliche die Erfahrung von Ganzheit der Welt, weshalb sie für die Beantwortung der Frage nach „dem Sinn des Ganzen“ bedeutsam werde.
Die Tagung wurde fortgesetzt mit dem Vortrag „Intimität und Selbst – vom Verblassen zweier Fluchtpunkte am Horizont“ von Eva Illouz (Hebrew University Jerusalem), moderiert von Benedikt Salfeld-Nebgen. Die Perfektionierung des Selbst lasse sich am deutlichsten im Bereich der Initimität aufzeigen. Denn Intimität mache die permanente und aufmerksame subjektive Selbst- und Fremdbeobachtung erforderlich. In diesem Zusammenhang griff Illouz den Titel der Tagung „Lost in Perfection“ im Sinne eines Strebens danach auf, eine Situation zu verbessern, die fortlaufend „noch nicht gut genug“ sei. Der Vortrag fokussierte in diesem Zusammenhang auf verschiedene Formen der damit einhergehenden Selbst-Beobachtung und -Bewertung. Dabei seien Marktlogiken in unterschiedliche Bereiche des Lebens mit einbezogen und beeinflussten das Selbstkonzept von Individuen.
„Optimierte Körper – Todesabwehr im Kontext von Schönheitsmedizin“ nahm Ada Borkenhagen (Univ.-Klinikum Leipzig) in den Blick. In ihrem Vortrag, moderiert von Theresa Vos, legte Borkenhagen anhand empirischer Analysen dar, dass Selbstdesign und Körperoptimierung in vielfacher Weise als Trend seit einigen Jahren zunehmen würden. Profitable Zukunftsmärkte seien vor allem Intim-Operationen und die Professionalisierung des sog. Bodytunings. In diesem Sinne sei Körperoptimierung zum Heilsversprechen des 21. Jahrhunderts avanciert und insbesondere das Heilsversprechen ewiger Jugend und der Überwindung des Todes werde von der Schönheitsmedizin gezielt in Szene gesetzt. Am Beispiel von Smartphone-Apps zeigte Borkenhagen auf, wie die kontinuierliche Arbeit am Körper im Dienste der Schönheit inszeniert werde.
Im Vortrag „‘Es gibt viel Fortschritt, aber das heißt nicht, dass es besser wird‘. Widersprüche der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne“ wurde von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa (Univ. Hamburg, IPU Berlin, FSU Jena) das Forschungsprojekt APAS mit ausgewählten Ergebnissen vorgestellt. In verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen und in der individuellen Lebenspraxis entstünden vielfältige Optimierungszwänge und neuartige Perfektionierungsbestrebungen. So wirke sich der Druck zur steten Verbesserung und Effizienzsteigerung nicht nur in Beruf und Bildung aus, sondern auch in der Familie, in Eltern-Kind- und Paarbeziehungen, im Verhältnis zu Körper und Selbst, sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten. Von besonderem Interesse seien hierbei die Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Psyche sowie die Verschiebungen im Verständnis von ‚Pathologie‘ und ‚Normalität‘. Im Vortrag wurden somit psychische und soziale Bedingungen und Folgen sowie auch Widersprüche und Risiken von Optimierung beschrieben. Es habe sich in der Studie herausgestellt, dass Optimierungsdruck im Kontext einer Priorisierung von Wettbewerbslogiken zu Bindungsverlusten führe und individuelle wie auch soziale Ressourcen zu unterhöhlen drohe. Passförmige biografische Muster würden dabei verstärkt, nicht-passförmige hingegen destabilisiert. Typisierbare Varianten optimierter Lebensführung, die in diesem Zusammenhang vorgestellt wurden, seien dabei Folge gesellschaftlicher Bedingungen wie auch spezifischer psychischer Verarbeitungsformen.
Schließlich fand eine von Diana Lindner moderierte Podiumsdiskussion statt, an der neben allen Referentinnen und Referenten auch Prof. Dr. Hans-Christoph Koller (Univ. Hamburg) teilnahm. Koller eröffnete dem Publikum eine weitere, bildungstheoretische Perspektive auf das Phänomen der Optimierung und rückte die Frage in den Fokus, ob das Konzept der Bildung als ein Gegenkonzept zum Perfektionierungsimperativ verstanden werden könne oder ob Bildung selbst Teil dieses Imperativs sei. Einerseits könne in der Entwicklungsoffenheit von Bildung ein Gegenpotenzial liegen, andererseits bestehe die Gefahr, dass Bildung immer auch von Optimierungszwängen und destruktiven Potenzialen geprägt werde. Im Anschluss wurden verschiedene Fragen zu gegenwärtigen Arbeitsbedingungen und ihren Steigerungslogiken, zu Optimierungsanforderungen in Erziehungsinstitutionen sowie zum Begriff der Optimierung vom Plenum thematisiert. Erörtert wurde auch das Verhältnis von Psychologie, Psychoanalyse, Sozial- und Bildungswissenschaften bei der Erforschung und Theoretisierung gesellschaftlicher Entwicklungen sowie der individuellen Verarbeitung von Optimierungsanforderungen und ihrer Folgen in Generationenbeziehungen.
Ein ausführliches Schlusswort von Prof. Dr. Benigna Gerisch und ihre Danksagungen an all jene, die die Tagung ermöglicht und unterstützt hatten, rundeten die Tagung ab. Der Dank für die finanzielle Förderung der Veranstaltung richtete sich dabei an die Universität Hamburg, an das Dekanat der Fakultät Erziehungswissenschaft und im Besonderen an die VolkswagenStiftung.


2.3. Transdisziplinäres Forschungsprojekt ‚Das vermessene Leben‘ (seit 7/2017)

Projekttitel: Das vermessene Leben: Produktive und kontraproduktive Folgen der Quantifizierung in der digital optimierenden Gesellschaft

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Projektleitung des transdiziplinären Forschungsprojekts:

Prof. Dr. Vera King (Sprecherin; Goethe-Univ. & SFI Frankfurt/M.), Prof. Dr. Benigna Gerisch (IPU Berlin), Prof. Dr. Hartmut Rosa (Univ. Jena und Max-Weber-Kolleg Erfurt)

Gefördert von der VolkswagenStiftung in der Förderlinie ‚Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft‘, Projektbeginn 2017

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Gegenstand des Projekts sind die ambivalenten Folgen einer in hohem Maße auf quantitative Steigerung ausgerichteten Optimierungslogik, wie sie im Zuge des digitalen Wandels an Bedeutung gewonnen hat. Mittels eines dreigliedrigen Projektdesigns sollen produktive und kontraproduktive Dimensionen der ‚Orientierung an der Zahl‘ und der Vermessung des Lebens im Kontext von organisationalen und individuellen digitalen Optimierungsprozessen und hinsichtlich ihrer intersubjektiven und psychischen Bedeutungen untersucht werden.

Das geplante Projekt baut somit auf das von der VolkswagenStiftung im Rahmen seines Programms ‚Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft‘ geförderte Projekt „Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne. Gegenwärtiger kultureller Wandel von Selbstentwürfen, Beziehungsgestaltungen und Körperpraktiken“ (APAS) auf, das die Bedeutung und Folgen der Anforderungen an Optimierung sozialer Praxis in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und Lebensbereichen und mit Blick auf Veränderungen kultureller Normen und Konstrukte von ‚Normalität‘ und ‚Pathologie‘ erforscht hat

Die Teilprojekte untersuchen dazu folgende Bereiche digital quantifizierender Optimierung:

Tp I (Jena): Die Bedeutung von und Orientierung an Zahlen in den Handlungspraktiken und Interaktionsmodi professioneller Organisationen.

Tp II (Frankfurt/M.): Die Bedeutung von und Orientierung an Zahlen, insbesondere in der Beziehungsgestaltung in Social Media in Relation zur nicht-digitalen und face-to-face- Kommunikation (Frankfurt) sowie in Relation zu PatientInnengruppen (Berliner Sample).

Tp III (Berlin): Die Bedeutung von und Orientierung an Zahlen unter besonderer Berücksichtigung der Körperpraxis von PatientInnen sowie in Relation zu Nicht-PatientInnen (Frankfurter Sample).

Das Projekt setzt in seiner dreigliedrigen transdisziplinären Untersuchungsanlage und mittels Methodentriangulation (quantitative und verschiedene qualitative Zugänge) den im APAS-Projekt erfolgreich eingeschlagenen Weg fort, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ebenen des Sozialen sowie die Spannung von Normierungen und Praxisveränderungen bis hin zu Überforderungs- und Pathologiepotenzialen zu analysieren sowie neue konzeptuelle und methodologische Zugänge zur Analyse der Vermittlungen von Gesellschaft und Individuum, Kultur und Psyche zu entwickeln.


2.4. Perspektiven des Anormalen: Zu historischen Formen und medialen Erscheinungsweisen des Anormalen

Projekt: Mitglied eines interdisziplinären DFG-Forschernetzwerkes
Titel: Perspektiven des Anormalen: Zu historischen Formen und medialen Erscheinungsweisen des Anormalen
Zeitraum: Herbst 2008 – März 2010: Anmerkung: das Projekt wurde nicht gefördert
Leitung: Prof. Dr. Natascha Adamowsky, Kulturwissenschaftliches Institut an der Humboldt Universität Berlin

2.4.1. Teilprojekt: Metamorphosen des Körpers im suizidalen Erleben und Agieren
Leitung: PD Dr. Benigna Gerisch

In den herkömmlichen medizinisch-psychiatrischen Erklärungsmodellen zur Suizidalität wurde die Suizidversuchsanfälligkeit von Frauen, abgesehen von gelegentlich zaghaften Verweisen auf artefakt- und genderspezifische Faktoren, stets der andere, sich aufgrund seiner hormonell-biologischen Ausstattung vom Mann unterscheidende Körper der Frau, als ursächlich für diese evidente ge-schlechtsspezifische Häufung postuliert. Und nicht zuletzt taucht dieses körperzentriert-defizitäre Ätiologiemodell sowohl in den trieb- als auch in den narzissmustheoretischen Konzeptualisierungen wieder auf. Während sich abzeichnet, daß die herkömmlichen Erklärungsmodelle insgesamt zu kurz greifen, so bleibt am Imposantesten das von Männern und Frauen unterschiedliche Körperselbsterleben und die damit verbundene unbewusste wie bewusste Indienstnahme des Körpers im suizidalen Erleben und Agieren. Die traditionelle Forschung mit ihrer Reproduktion von Geschlechtsrollenstereotypien hat aus dem Blick geraten lassen, daß Suizidalität sich nicht allein in ihrer letalen Intention erschöpft, sondern dem Körper – mit seinen phantasmatisch aufgeladenen morphologischen Umwälzungen – weit mehr Bedeutung beigemessen werden muss.
In diesem Beitrag sollen vor dem Hintergrund aktueller psychoanalytischer Konzeptualisierungen, psychoanalytischer Einzelfallstudien und literarischer Beschreibungsformen die Metamorphosen des Körpers im suizidalen Erleben und Agieren untersucht werden. Denn die geschlechtsspezifische, konkretistische und projektive Instrumentalisierung des Körpers sowie seine phantasmatischen und bizarren Verwandlungen sind im Kontext der Suizidalität (Phantasien, Erlebenszustände, Handlungen) ein eklatantes, aber noch wenig erforschtes Phänomen. Dabei soll besonderes Augenmerk auf das eigentümliche Oszillieren von sexualisierter Aufladung des Körpers einerseits und autodestruktiven Körper-Selbstverwerfungen andererseits gelegt werden. Diese Verklammerung von Körper und Suizidalität soll überdies anhand der Schreibweisen von Autorinnen des 20. Jahrhunderts – u.a. Sylvia Plath, Anne Sexton, Marina Zwetajewa und Hertha Kräftner – exemplifiziert werden, deren Texte (Lyrik, Prosa, autobiographische Zeugnisse) in augenfälliger Weise von eben jenen zu untersuchenden körperzentrierten Metamorphosen und (sexualisierten) Selbstzerstörungspassionen durchwoben sind.


2.5. Psychoanalyse und Literaturwissenschaft

Projekt: Interdisziplinäres Curriculum von Wissenschaftlerinnen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und der Psychoanalyse zur Erforschung der spezifisch weiblichen Suizidalität anhand der textkritischen Analyse der Schreibweisen von Gegenwartsautorinnen: Sylvia Plath, Anne Sexton, Virginia Woolf, Marina Zwetajewa, Unica Zürn und Inge Müller
Teilprojekt: Teilnahme als Referentin an der Vortragsreihe „Nun breche ich in Stücke“ – Zur Suizidalität in Leben und Werk von Gegenwartsautorinnen – u.a. mit Ilma Rakusa, Zürich; Prof. Dr. Sigrid Weigel, Berlin, Zürich; Prof. Dr. Elisabeth Bronfen, Zürich. Die Vortragsreihe wurde ab Herbst 1999 im Brecht-Haus in Berlin fortgesetzt und 2000 im Verlag Vorwerk 8, Berlin, publiziert
Titel: „Auf diese Welt des Irrsinns gibt es nur eins: ich geh“ – Psychoanalytische Hypothesen zum Suizid der russischen Schriftstellerin Marina Zwetajewa. Vortrag im Literaturhaus Hamburg am 19.6.1998 und im Brecht-Haus in Berlin am 4.11.1999
Leitung: In Zusammenarbeit mit dem Hamburger Literaturhaus e.V. und dem Brecht-Haus in Berlin
Zeitraum: Herbst 1998 – Herbst 1999

Publikation u.a.: Gerisch, B. (2000): „Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich“. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa. In: Keller, U. (Hrsg.). „Nun breche ich in Stücke…“ Leben, Schreiben, Suizid. Berlin: Verlag Vorwerk 8, S. 69 – 115.


2.6. Psychoanalyse und Kulturwissenschaften

Projekt: Interdisziplinäre Vortragsreihe im Rahmen der zweiten „Kulturwoche“ Suizidalität im Jahr 2002 in Hamburg, veranstaltet vom Förderverein for life e.V. des Therapiezentrums für Suizidgefährdete in Kooperation mit der Arbeitsstelle für feministische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg
Titel: „Ein Denken, das zum Sterben führt“: Selbsttötungen – das Tabu und seine Brüche
Koordination: Dipl.-Psych. Georg Fiedler, Prof. Dr. Marianne Schuller
Konzeptentwicklung: Dr. Ines Kappert, PD Dr. Benigna Gerisch

Den Freitod zu wählen, bedeutet eine enorme Provokation für die Überlebenden. Denn die Selbstauslöschung eines Individuums zeigt in dieser radikalsten und doch ohnmächtigsten Selbstermächtigung dem Kollektiv, der Familie, den Freunden, dem Staat und sich selbst in aller Gnadenlosigkeit die Grenzen auf; manchmal erklärt es ihnen gar den Bankrott. Der Suizid weist die Selbsterhaltung als oberstes menschliches Ziel zurück und erschüttert damit unsere Denkordnungen zutiefst. Wie also die Selbsttötung verstehen? Wie über sie sprechen? Wie das so traurige und bedrohliche Phänomen der Selbstmordattentate einordnen? Die Vortragsreihe und der daraus entstandene Band skizzieren, wie das Skandalon des Freitodes in der Psychologie, Philosophie, Literaturwissenschaft, Soziologie bis hin zu den Islamwissenschaften diskutiert wird. Er fragt nach literarischen und medialen Bearbeitungen von Selbsttötungen ebenso wie nach den Geschlechtercodes, die die Diskurse um den Suizid begleiten. Dabei führt die Anthologie die Vielgestaltigkeit des Phänomens und seine enorme Wirkmächtigkeit auf die jeweiligen Denk-Disziplinen vor Augen: Denn nicht selten treibt der Suizid auch das Denken an seine Grenzen – und über sie hinaus.

Gerisch, B.: Einführung und Moderation der gleichnamigen Kolloquiumsreihe am 14.11.02 am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Hamburg

Publikationen: Kappert, I.; Gerisch, B.; Fiedler, G. (Hrsg.). (2004): „Ein Denken, das zum Sterben führt“: Selbsttötung: Das Tabu und seine Brüche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 200 Seiten.

Kettner, M.; Gerisch, B. (2004): Zwischen Tabu und Verstehen: Psycho-philosophische Bemerkungen zum Suizid. In: Kappert, I.; Gerisch, B.; Fiedler, G. (Hrsg.): „Ein Denken, das zum Sterben führt“: Selbsttötung: Das Tabu und seine Brüche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 38 – 66.


2.7. Psychoanalyse und Philosophie

Projekt: Teilnahme als Referentin – mit einem Reisestipendium des DAAD – am fünftägigen philosophischen Fachkurs „Körperlichkeit und Normativität“ im Inter University Center von Dubrovnik
Titel: Welches Körperselbstbild sollen wir entwickeln? Psychoanalytische Dissense
Zeitraum: 27.3. – 1.4.2003

Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Matthias Kettner, PD Dr. Hilge Landweer, Prof. Dr. 
Anton Leist, Prof. Dr. Zrdavko Radmann

Die Tatsache, daß das animal rationale eine spezifische menschliche Verkörperung hat, hat die Philosophie weit weniger interessiert und beschäftigt als die Vermutung, der Organismus, Körper oder Leib der Person sei der Sitz geistiger, rationaler, und überhaupt „höherer“ Vermögen. Historisch betrachtet haben sich gewisse begriffliche Aufspaltungen, die der Platonismus in unsere praktische und theoretische Selbstauslegung eingeführt hat, mit der Kulturgeschichte der Leibfeindlichkeit im Christentum verbunden, um ihre für die Neuzeit prägende dualistische Form schließlich im Cartesianismus zu erhalten. Zwar hat es an Versuchen, cartesianische, Leib-Seele-dualistische Denkweisen zu überwinden, von Hegel bis Heidegger nicht gefehlt. Gleichwohl lebt in der analytischen Philosophie und auch in neueren philosophischen Theorien künstlicher Intelligenz die alte Körpervergessenheit fort. Die Fachkursreihe hat zum Ziel, die Abwiegelung, Ausklammerung und Verdrängung der Körperlichkeit gerade in solchen philosophischen Diskurskontexten zu reflektieren, wo die Körperlichkeit wichtige normative Implikationen hat oder den Hintergrund für normative Aussagen bildet.

Publikation: Gerisch, B. (2006): „Keramos Anthropos“: Psychoanalytische Betrachtungen zur Genese des Körperselbstbildes und dessen Störungen. In: Ach, J.S.; Pollmann, A. (Hrsg.): No body is perfect – Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld: transcript Verlag, S. 131 – 161.


2.8. Psychoanalyse, Theater- und Literaturwissenschaft

Projekt: Teilnahme als Referentin an der internationalen Vortragsreihe „Theater und Universität im Gespräch: Geschlechterszenen“ – eine Kooperation der Arbeitsstelle für feministische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg und dem Thalia Theater in Hamburg
Symposium III: Nora und Hedda Gabler – Henrik Ibsen.
Die Vortragsreihe wurde im Verlag Königshausen und Neumann publiziert.
Titel: „Eine Tat, auf die ein Glanz fällt – ein Schimmer von Schönheit!“ Psychoanalytische Überlegungen zum Suizid von Hedda Gabler
Leitung: Prof. Dr. Ortrud Gutjahr

Das eigenwillig unkonventionelle Rollenverhalten der Titelprotagonistinnen löste bei den deutschsprachigen Uraufführungen von Henrik Ibsens „Frauendramen“ Nora (Ein Puppenheim) und Hedda Gabler hitzige Kontroversen aus. Was aber kann heute an diesen so häufig gespielten Stücken des norwegischen Dramatikers eigentlich noch irritierend oder gar provozierend sein? Diese Frage stellt sich anlässlich Stephan Kimmigs viel beachteten Inszenierungen von Nora und Hedda Gabler am Thalia Theater, in denen die Geschlechterproblematik der beiden Schauspiele in die heutige Zeit übertragen wurde. Das Symposium möchte deshalb erkunden, welche neuen Perspektiven durch diese konsequent modernen Regieansätze auf die Geschlechterverhältnisse eröffnet werden. Können wir vielleicht erst heute, nach den Emanzipationsbewegungen und Geschlechterdiskursen des 20. Jahrhunderts, das Potential von Ibsens seinerzeit verstörenden ‚Geschlechterszenen’ erschließen?

Publikation: Gerisch, B. (2005): „Eine Tat, auf die ein Glanz fällt — ein Schimmer von Schönheit!“ Psychoanalytische Überlegungen zum Suizid von Hedda Gabler. In: Gutjahr, O. (Hrsg.) Nora und Hedda Gabler von Henrik Ibsen. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 117 – 131.


2.9. Psychoanalyse und Literatur

Projekt: Teilnahme an der internen Fachtagung des Freiburger Arbeitskreises Literatur & Psychoanalyse zu Heinrich von Kleist
Titel: „…und unter ihr die weite, öde, entsetzliche See“: Psychoanalytische 
Anmerkungen zur Leere und Desymbolisierung in Kleists Erzählung „Der Findling“
Zeitraum: 17. – 19.5.2007
Leitung: Prof. Dr. Ortrud Gutjahr

Heinrich von Kleist gehört unzweifelhaft zu den Autoren, denen sich die literaturwissenschaftliche Interpretation verstärkt seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit besonderer Akribie widmet. Kennzeichnend für Kleists Texte ist, dass sie durch Paradoxien, Leerstellen, Brüche, Auslassungen und Inkonsistenzen geprägt sind und dass den narrativen oder szenischen Zusammenhängen auf den ersten Blick häufig kein kohärenter Sinn unterlegt werden kann. Ganz offensichtlich fordert gerade diese Eigenart der Dramen und Erzähltexte in besonderer Weise zur Deutung heraus. Die elaborierte Kleist-Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten in einem breit angelegten Untersuchungsfeld einige zentrale Themen markiert.
Dabei ist auffällig, dass der Untersuchungsfokus meist nicht auf einzelne Erzählsujets oder dramatische Konflikte zentriert ist, sondern besonderes Gewicht auf immer wiederkehrende Interdependenzen und Antonymien gelegt wird, wie die zwischen Sprache und Erkenntnis, Vertrag und Versprechen, Liebe und Gewalt, Verstehen und Missverstehen, Krieg und Begehren oder auch zwischen zerbrechenden Ordnungen und Familienkonstellationen, um nur einige wenige zu nennen. Aber weshalb avancierte Kleist nach den Studien zu seinem Leben und Werk im 19. und frühen 20. Jahrhundert gerade seit den 1970er Jahren auch in der psychoanalytischen Literaturinterpretation zu einem der meistbehandelten Autoren? Welche thematischen Konstellationen und ästhetischen Verfahren sind es im Einzelnen, die Kleists Texte offenbar so reizvoll für eine psychoanalytisch orientierte Literaturinterpretation werden lassen? Wir wollen bei unserer Arbeitstagung zu Heinrich von Kleist der Frage nachgehen, welche Ansätze durch die psychoanalytisch orientierte Literaturinterpretation für das Werk Kleists gefunden wurden und welche neuen Zugänge sich auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Forschung und Theoriebildung entwickeln lassen. Für die Arbeitstagung zu Kleist soll entweder ein Text oder eine übergeordnete Fragestellung an mehreren Texten untersucht werden. Wünschenswert ist dabei eine Reflexion auf das psychoanalytische Verfahren, mit dem die Texte erschlossen werden.

Publikation: Gerisch, B. (2008): „…und unter ihr die weite, öde entsetzliche See“: Psychoanalytische Anmerkungen zur Adoptionstragödie und Desymbolisierung in Kleists Erzählung ‚Der Findling‘. In: Gutjahr, O. (Hg.): Heinrich von Kleist, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 27. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 227 – 247.


2.10. Psychoanalyse und Interkulturalität

Projekt: Teilnahme als Referentin an der Ringvorlesung „Tabu: Interkulturalität und Gender“, Veranstalter: Arbeitsstelle für feministische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg
Titel: „Tödliche Sehnsucht“: Suizidalität und sexuelle Leidenschaft – die zwei Seiten eines (weiblichen) Tabus?
Leitung: Prof. Dr. Ortrud Gutjahr, Prof. Dr. Claudia Benthien
Zeitraum: Herbst 2006 – Frühjahr 2007

Das polynesische Wort tabu bedeutet ‚untersagt’, ‚verboten’, ‚unverletzlich, ‚unberührbar’, ‚heilig’. Es gehört zu den wenigen Worten, die aus der Sprache der so genannten ‚Naturvölker’ in die westliche Kultur Eingang gefunden haben. Tabus markieren unumstößliche Normen einer Kultur, deren Übertretung mit Sanktionen einhergeht. Im Unterschied zum explizit formulierten Verbot wird die Einhaltung von Tabus implizit gesteuert. Tabuverletzungen werden weniger durch konkrete Strafen geahndet, als durch eine Affektökonomie reguliert, wonach sich Gefühle der Schuld, Scham und Peinlichkeit unwillkürlich einstellen. Nur wenige Tabus wie das Tötungs- oder das Inzesttabu, deren soziale Verankerung Sigmund Freud als Grundbedingung von Kultur bestimmte, haben universelle Bedeutung.
Viele Tabus sind kulturspezifisch und innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft in ihrer Geltung und Reichweite geschlechtlich codiert. Damit aber kommt ihnen an der Schnittstelle von Kultur und Gender grundlegende Regelungsfunktion zu: Tabus steuern soziale Ein- und Ausschlussbewegungen und zugleich die affektive Besetzung gender-spezifischer Zuschreibungen. Tabubrüche werden unter dieser Perspektive zu einem wichtigen Indikator kulturellen Wandels.
Es sind ohne Zweifel die Künste, die seit der Moderne ein Monopol auf den Tabubruch beanspruchen. Der ‚inszenierte Skandal’ gilt geradezu als Ausweis künstlerischer Genialität. In ihren unterschiedlichen medialen Formen kommt den Künsten auch eine wichtige Rolle bei der kritischen Reflexion und Infragestellung von Tabus zu. So kann ein Tabu durch Ironie dissimuliert, durch Satire in Frage gestellt, durch Blasphemie geleugnet oder durch obszöne Darstellungsweise gebrochen werden.
Die Ringvorlesung behandelt leitende Tabus aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und mit besonderem Blick auf Gender und Interkulturalität.

Publikation: Gerisch, B. (2008): Tödliche Sehnsucht: Suizidalität und sexuelle Leidenschaft. Die zwei Seiten eines (weiblichen) Tabus. In: Benthien, C. u, Gutjahr, O. (Hrsg.): Tabu – Interkulturalität und Gender. München: Wilhelm Fink, S. 141 – 159.


2.11. Suizid: Die historische Dimension im Kontext des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert

Projekt: Teilnahme als Referentin an der Conference Sigmund Freud: His Jewish World in New York
Titel: „To leave this world with decency“: Psychoanalytical Considerations on Suicidality in Life and Work of Sigmund Freud
Zeitraum: 02. – 04.12.2006
Veranstalter: The YIVO Institute for Jewish Research/New York, the Sigmund Freud Archives

Publikation: Gerisch, B. (2010): „Leaving this World with Decency“: Psychoanalytical Considerations on Suicide in the Life and Work of Sigmund Freud. In: Arnold Richards (Ed.). The Jewish World of Sigmund Freud. Essays on Cultural Roots and the Problem of Religious Identity. North Carolina/London: Mc Farland & Company, S. 165 – 174.


2.12. Suicide, Body and Gender

Projekt: Teilnahme an der Konferenz „Fatal Attraction“: Motives, Metaphors, Myths, Misogyny, Martyrdom, Messages and Madness mit: Joanna Lipper, James Gilligan and Donald Moss
Titel: „Fatal Attraction“: Women and Suicidal Behavior: Obsession and the Use of the Body
Zeitraum: 5.12.2006 in New York/ Medical Center der New York University (NYU).
Veranstalter: NYU Psychoanalytic Institute at NYU Medical Center and The Woodhull Institute for Ethical Leadership.

Publikation: Gerisch, B. (2008): Suicidality and Women: obsession and the use of the body. In: Briggs, S.; Lemma, A.; Crouch, W. (eds): Relating to Self-harm and suicide: Psychoanalytical Perspectives on Practice, Theory and Prevention. London/New York: Routledge, S. 128 – 138.


III. Förderung der wissenschaftlichen Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit im Bereich ‚Suizidologie und Psychoanalyse‘

Das Ziel war die Verbreitung von Informationen und die Diskussion wissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Bereichen Suizidalität und Psychotherapie. Medien waren eine Buchreihe, eine Vortragsreihe sowie nationale sowie internationale Tagungen.
Als Mitglied der Forschungsgruppe „Suizidalität und Psychotherapie“ im TZS beteiligt an folgenden Projekten:

3.1. Buchreihe: „Hamburger Beiträge zur Psychotherapie der Suizidalität“

Das Therapiezentrum für Suizidgefährdete gab eine Buchreihe mit Beiträgen zum Verständnis und zur Psychotherapie der Suizidalität heraus. Sie wird vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht publiziert. Bislang sind 5 Bände erschienen.
Hier eine Auswahl:

Gerisch, B.; Gans, I. (Hrsg.) (2001): „Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt“ – Autodestruktivität und chronische Suizidalität. Hamburger Beiträge zur Psychotherapie der Suizidalität, Bd. 3. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 148 Seiten.
Gerisch, B.; Gans, I. (Hrsg.) (2003): „So liegt die Zukunft in Finsternis“. Suizidalität in der psychoanalytischen Behandlung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 162 Seiten.
Kappert, I.; Gerisch, B.; Fiedler, G. (Hrsg.) (2004): „Ein Denken, das zum Sterben führt“: Selbsttötung: Das Tabu und seine Brüche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 200 Seiten.


3.2. Vortragsreihe: Suizidalität und Psychotherapie

Seit 1997 veranstaltet das Therapiezentrum für Suizidgefährdete die Vortragsreihe „Suizidalität und Psychotherapie“ mit Gastvorträgen deutscher und internationaler Wissenschaftler.


3.3. Internationaler Kongress 2001: Suicidality – Psychoanalysis • State of the Art

Vom 28. August bis 2. September 2001 veranstaltete die Forschungsgruppe einen internationalen Kongress zum Thema Suizidalität und Psychoanalyse. Der Kongress sollte dem Austausch und der Diskussion von Konzepten zum Verständnis und der Behandlung von Suizidalität in Theorie und Praxis und dem Diskurs mit nicht psychoanalytisch orientierten Fachwissenschaftlern dienen.


3.4. Symposion 2007: „Wenn alles möglich ist, aber nichts mehr geht – Über moderne Befindlichkeiten“

Leitung: Benigna Gerisch, Klaus Loebell, Katharina Mohr und Thomas Rollwagen
Als Öffentlichkeitsreferentin des Michael-Balint-Institutes Planung, Organisation und Durchführung der Tagung: 50 Jahre Psychoanalyse in Hamburg – „Wenn alles möglich ist, aber nichts mehr geht“ – Über moderne Befindlichkeiten.

Referenten: Prof. Dr. Hartmut Böhme, Berlin; Prof. Dr. Vera King, Hamburg; Dr. Tomas Plänkers, Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Heinz Weiß, Stuttgart am 17.2.2007 in der Universität Hamburg. Veranstalter: Michael-Balint-Institut Hamburg e.V.


3.5.“darüber reden – Kulturwoche Suizidalität“

Von 2001- 2009: Mitorganisatorin der Veranstaltungsreihe „darüber reden – Kulturwoche Suizidalität“, organisiert vom Freundes- und Förderkreis „for life“ des TZS.


3.6. Medienarbeit

Zahlreiche Teilnahme an TV- Rundfunk- und Printmedieninterviews zum Schwerpunktthema „Suizidalität bei Frauen“, „Suizidalität und Gender“ sowie psychoanalytischen Grundbegriffen und Fragestellungen.